„Unter vorläufiger französischer Verwaltung“: Staatsterritorium, Grundbesitz und die Grenzen des Deutschen Reiches in der westlichen Bundesrepublik

Artikel veröffentlicht im Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 49. 2021, S. 174-216.

Auszug: In vielen Fragen der Nachkriegsordnung waren Ost und West in der Politik der Bundesrepublik engstens verflochten. Der Fall des sequestrierten deutschen Vermögens in Frankreich und der „Annektierung“ des Mundatwaldes in der Pfalz zeigt in extremis, wie Fragen der verlorenen Ostgebiete auch die Beziehungen Deutschlands zu seinen westlichen Nachbarn verkomplizierten und innenpolitisch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Juristen und Bauern führten. Wegen rechtlicher Streitigkeiten über die immer wieder behauptete Unantastbarkeit der deutschen Grenzen von 1937 konnten die eigentümlichen und hoheitlichen Verhältnisse an der deutsch-französischen Grenze erst 1984 diplomatisch geklärt, 1989 rechtlich durchgesetzt und 1994 im Gesetzesblatt bekanntgegeben werden. Somit war der Streit um den Mundatwald einer der langlebigsten Grenzkonflikte Nachkriegsdeutschlands, der sich auch nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Warschauer Vertrag von 1970 und sogar nach dem Ende des Kalten Krieges fortsetzte. Der kleine Wald wurde immer wieder zu einem buchstäblich großdeutschen Politikum erhoben, weil nach Ansicht mancher Staatsrechtler eine „Gebietsabtretung“ dieser sieben Quadratkilometer die Wiedervereinigung Deutschlands und die Möglichkeiten der Wiedererlangung der Ostgebiete gefährdet hätte. Darüber hinaus warf der Fall Fragen auf, wie die Interessen des Staats gegen die der Bürger zu gewichten seien und in welchem Verhältnis die Bundesrepublik zum „Deutschen Reich“ stehe. Im letzten Jahr des Kalten Krieges spitzte sich der eigentlich schon gelöste Konflikt sogar weiter zu, als Verfechter des deutschen Anspruchs auf den Mundatwald versuchten, die angeblichen Eigentumsinteressen des „Deutschen Reiches“ vor Gericht zu verteidigen. Lokale Konflikte im Grenzraum um den Zugang zu landwirtschaftlichen Ressourcen waren damit tief eingebettet in größere Fragen: wo lag Deutschland und was war „deutscher Raum“ (bzw. deutsches Territorium) nach dem Zweiten Weltkrieg?